Bei dem Versuch, die von Mello und Fire verwendete Strategie auf
Wirbeltiere zu übertragen, traten jedoch in der Folge erhebliche
Probleme auf. Insbesondere die Verabreichung von kleinen, sogenannten
siRNAs (small interfering RNAs) in Tieren bereitete Mühe. Man konnte
wohl siRNAs mit verschiedenen Methoden wie Hochdruck-Injektionen oder
in Verbindung mit Cholesterin erfolgreich verabreichen, doch die
dahinter stehenden Mechanismen blieben unklar. Markus Stoffel,
ETH-Professor am Institut für Molekulare Systembiologie, ist es nun
zusammen mit Chemikern der Firma Alnylam gelungen, den Mechanismus für
die Aufnahme von siRNA in Verbindung mit Fettsäuren in Säugern
aufzuklären. Die entsprechende Studie, die diese Tage in der
Fachzeitschrift "Nature Biotechnology" erscheint und auch das
Titelblatt der gedruckten Version im Oktober ziert, stellt die
Grundlage dar unter anderem für mögliche siRNA-Therapien. Denn Stoffel
zeigte,dass sich siRNA wirksam an verschiedene Fettsäuren koppeln
lässt.
Stoffel und sein Team wandten sich chemisch modifizierten siRNAs in
Verbindung mit Cholesterin zu, nicht weil die auf diesen Verbindung
basierende Methode besonders effizient war, sondern weil sie am
wenigsten Nebenwirkungen hat. Als erstes wollten die Forscher wissen,
ob sich siRNA neben Cholesterin auch an andere lipophile Stoffe binden
lässt und dabei zu einer Reduktion der Aktivität eines Zielgens in der
Leber führt. Es zeigte sich, dass es mehrere solche Fettsäuren gibt.
Doch an was binden all diese mit sogenannte lipophilen Substanzen
konjugierten RNAs im Blut? Die ETH-Forscher fanden heraus, dass die
Bindungspartner je nach verwendeter Fettsäure die bekannten
Cholesterintransporter High Density Lipoproteine (HDL) beziehungsweise
Low Density Lipoproteine (LDL) wie auch das im Blut überall vorhandene
Albumin sind. Ohne diese Lipoprotein-Partikel kommt es, wie aus
weiteren Experimenten hervorging, zu keiner Aufnahme der siRNAs ins
Gewebe. In einem Zusatzexperiment demonstrierten die Wissenschaftler,
dass die Aufnahme erheblich effizienter gemacht werden kann, wenn man
die siRNA-Fettsäuren-Moleküle vor der Verabreichung bereits fest mit
HDL und LDL verbindet. Zudem fand Stoffels Team heraus, dass je nach
dem ob ein siRNA-Fettsäure-Molekül an HDL oder LDL gebunden ist, die
Aufnahme in verschiedene Gewebe bevorzugt wird: Alle LDL-Verbindungen
lösen Reaktionen in der Leber aus, HDL-Verbindungen aber auch im Darm
oder den Nieren.
Der letzte Befund wies darauf hin, dass die Aufnahme über die
Rezeptoren von HDL und LDL läuft. Diese Annahme belegten die Forscher,
indem sie die Rezeptoren inaktivierten, was zur Folge hatte, dass
keine Aufnahme mehr stattfand. So klar der Befund war, löste er bei
Stoffel doch eine gewisse Irritation aus. Er konnte sich schlecht
vorstellen, dass die siRNAs über den normalen Aufnahmeweg wie HDL und
LDL in die Zelle gelangen. Denn dieser führt in das zelleigene
Verdauungssystem mit Lysosomen, welches die siRNAs abbauen würde. Wie
können aber die siRNA diesen Abbau umgehen? Stoffel kam zum Schluss,
sie nehmen einfach eine andere Türe in die Zelle. Die HDL- und
LDL-Rezeptoren würden also nur als Andockstationen fungieren und nicht
als Eingangsportal.
Was wiederum könnte aber die alternative Türe sein? Die ETH-Forscher
erinnerten sich daran, dass beim Wurm C.elegans ein Genprodukt Sid1
vorkommt, welches notwendig ist für die zelluläre Aufnahme von siRNA.
Vom entsprechenden Gen gibt es auch ein homologes bei den Säugetieren.
Indem sie dieses inaktivierten, zeigten die Wissenschaftler, dass
dieses auch bei den Säugern benötigt wird. Insgesamt ergibt sich aus
allen Befunden ein Mechanismus für siRNA-Verabreichung, der mit einer
Bindung von siRNAs an bestimmte Fettsäuren beginnt. Diese Verbindung
wird an lipophilen Proteinen gekoppelt, welche zu einem Andocken an
die Gewebezellen führen. In der Nähe der Dockstation befindet sich
dann die Türe, welche den siRNA-Fettsäuren-Molekülen den Eintritt
gewährt.
Mit ihrer Arbeit hätten sie die wichtigsten Elemente für den
Aufnahmemechanismus bestimmen können, meint Stoffel. Es sei aber sehr
wahrscheinlich, dass noch weitere Moleküle eine Rolle spielen. Da man
jetzt aber erstmals einen Einblick in den Mechanismus habe, könne man
gezielt die Technik verbessern. Stoffels Gruppe will beispielsweise
herausfinden, ob man HDL und LDL durch künstliche Proteine oder
lipidreiche Partikel ersetzen kann. Grundsätzlich habe die Technik das
Potenzial, um gentherapeutisch verwendet zu werden. Doch auch der
Grundlagenforschung öffnet die Bestimmung der siRNA-Türe neue Türen.
Anstelle von siRNA könnte man wahrscheinlich auch miRNAs, einer
weitere Gruppe von kleinen RNAs, so einschleusen. Derselbe Mechanismus
sollte zudem für miRNA-Inhibitoren funktionieren. Da miRNA zunehmend
"verdächtigt" werden, in der Natur eine entscheidende Rolle bei der
Genregulation einzunehmen, könnte deren gezielte Verabreichung oder
Inhibition ganz neue Einsichten liefern.
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