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Die Marburger Physikochemiker Professor Dr. Karl-Michael Weitzel (rechts) und sein Mitarbeiter Dr. Gunter Urbasch präsentieren die Reaktionskammer ihres Experiments. Foto: Philipps-Universität Marburg
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Was macht eine chemische Bindung aus und wie kann man sie kontrollieren? Auf diese Frage, die Chemiker und Physiker seit mehr als hundert Jahren beschäftigt, haben Weitzel und seine Kollegen jetzt eine verblüffende Antwort gegeben. Wie man bereits in der Schule lernt, hat chemische Bindung etwas damit zu tun, dass sich Elektronen zwischen zwei oder mehreren atomaren Kernen aufhalten - von diesen sozusagen gemeinsam genutzt werden. "Wenn Elektronen das Bestehen einer chemischen Bindung konstituieren, dann bedeutet die Abwesenheit von Elektronen zwischen zwei Kernen den Bruch dieser Bindung", erklärt Weitzel den Grundgedanken des Experiments. Doch selbst wenn Elektronen für einen kurzen Moment aus dem Bereich zwischen zwei Kernen herausgelenkt werden, kommen sie normalerweise so schnell wieder zurück, dass die Kerne nur eine gemittelte Bewegung der Elektronen erkennen. Der Schlüssel zur Kontrolle chemischer Prozesse mittels Kontrolle der Elektronen liegt also darin, diese nicht nur kurzzeitig aus einer chemischen Bindung herauszunehmen, sondern sie auch noch am Zurückkommen zu hindern. Kein Wunder, dass dazu ein extrem schnelles Experiment erforderlich ist - "möglicherweise das schnellste, das je in Marburg durchgeführt wurde", merkt Weitzel an. Wie sich herausstellte, genügen unvorstellbar kleine Zeitunterschiede von 1.35 Femtosekunden, um vorwiegend die eine oder die andere chemische Bindung in einem Molekül zu brechen. Die Wissenschaftler haben ihren Versuch mit der Verbindung ortho-Xylol durchgeführt (chemische Formel: C8H10). Die Moleküle dieses Gases wurden mit zwei sehr kurzen Laserpulsen optisch angeregt, die jeweils nur 40 Femtosekunden dauerten. Diese beiden Lichtpulse erfolgten in so kurzem zeitlichem Abstand, dass sie überlappten, wodurch es zu Interferenzen kam; darunter versteht man das gegenseitige Aufschaukeln oder die Auslöschung der einander überlagernden Schwingungen. Weitzel und seine Kollegen variierten die Zeitverzögerung zwischen den beiden Laserpulsen in kleinsten Schritten von 300 Attosekunden, indem sie einen der beiden Strahlen über einen Umweg von wenigen Nanometern führten. Eine Attosekunde entspricht 10-18 Sekunden - zur Veranschaulichung: Licht benötigt etwas mehr als eine Sekunde für die Strecke von der Erde bis zum Mond, das sind fast 400.000 Kilometer. In 300 Attosekunden legt Licht ungefähr 100 Nanometer zurück. Je nach gewählter Verzögerung zerfielen die ortho-Xylol-Moleküle in unterschiedliche Bruchstücke: Bei einem Abstand von 70 Femtosekunden erreichte die Bildung von CH3+-Ionen ein Maximum und die Bildung von C+ ein Minimum. Sobald sich der Abstand um nur 1.35 Femtosekunden vergrößerte, war es genau umgekehrt. Über die Variation der Verzögerung in diesen unglaublich kleinen Abständen ist also die Kontrolle der Ausbeute konkurrierender chemischer Prozesse möglich. Dieses neue Phänomen kann in unterschiedlichen Bildern veranschaulicht werden. Die Wissenschaftler erklären ihre Ergebnisse dadurch, dass die Elektronen durch die Interferenzen der ultrakurzen Lichtpulse in synchrone Schwingungen versetzt werden. Dadurch befinden sie sich je nach Verzögerungszeit außerhalb der Reichweite eines der beteiligten Kerne, wodurch eine bestimmte chemische Bindung gebrochen wird - nämlich jeweils dort, wo die Elektronen gerade nicht sind. Die Ergebnisse erschienen am vergangenen Freitag im renommierten Fachjournal "Journal of Chemical Physics".
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