Welch Ebenmaß der Rundung, welch strahlende Schönheit! Am 10. April kommt sie mit dem Flugzeug aus Australien. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Paris wird sie schließlich in Braunschweig ihre perfekte Form offenbaren und die Herzen der PTB-Wissenschaftler höher schlagen lassen. Die Schöne ist eine etwa 10 cm dicke Kugel aus Silizium, so lupenrein, glatt und rund wie keine vor ihr. Mit Hilfe der Kugel wollen die Physiker der PTB das Kilogramm neu definieren - jene Maßeinheit, an der sich seit der französischen Revolution die Waagen der Welt messen lassen müssen und deren Prototyp in einem Pariser Safe sicher verwahrt wird. Im Wettlauf mit anderen Forschern rund um die Welt will das Team um Peter Becker die Kilogramm-Definition auf eine unveränderliche Konstante zurückführen, die - im Gegensatz zu einem Prototyp - weder herunterfallen noch sich auf andere Art verändern kann. Sie wollen zählen, wie viele Atome sich in der Kugel befinden, und für diese Aufgabe brauchen sie die vollkommenste Siliziumkugel der Welt. Etwas, was es noch nie gab. Und so ist die Erschaffung der Kugel eine ganz eigene Geschichte geworden, in der Wissenschaft und Technik eine große Rolle spielen, aber auch internationale Politik, Menschen mit besonderen Fähigkeiten und natürlich Geld. Die Entstehungsgeschichte dieser Kugel zeigt, wie spannend Forschung sein kann. Und das sogar schon, bevor die eigentliche Arbeit beginnt. Fünf Jahre lang hat das Team um Fachbereichsleiter Peter Becker auf den Moment gewartet, die perfekte Kugel in den Händen zu halten. So lange hat es gedauert, mit höchsten technischen Raffinessen das Material herzustellen, daraus einen Kristall zu ziehen, ihm eine Form zu geben und mit viel menschlichem Geschick deren Oberfläche zu polieren. Sie besteht zu 99,99 Prozent aus dem Silizium-Isotop-28 und ihre Kristallstruktur ist nahezu perfekt. Zudem ist sie so rund, wie eine Kugel nur sein kann: Misst man den Radius von der Kugelmitte zur Oberfläche an verschiedenen Stellen, ist die Abweichung nirgendwo größer als 30 Nanometer - das sind 30 millionstel Millimeter. Der Aufwand war notwendig, denn Peter Becker und seine Kollegen wollen die Kugel genauestens ausmessen - ihre Oberflächentopographie, ihr Volumen, ihre Masse, das Volumen einzelner Atome und deren Abstand im Kristallgitter. Es werden Tausende von Messungen sein und sie müssen sehr exakt werden. Bisher war das in dieser hohen Güte nicht möglich, denn herkömmliche Siliziumkristalle enthalten unterschiedliche Silizium-Isotope, fremde Atome oder Löcher in der Gitterstruktur, die die Messungen verfälschen. Doch die Braunschweiger Wissenschaftler und ihre Kooperationspartner in Belgien, Italien, USA, Frankreich, Japan und Australien sind nicht die einzigen, die sich auf die Suche nach einer Neudefinition des Kilogramms gemacht haben. Es ist ein regelrechtes Wettrennen entstanden, bei dem zurzeit britische und amerikanische Physiker die Nase vorn haben. Wie auch Kollegen in Frankreich und der Schweiz wollen sie mit der sogenannten Wattwaage das Kilogramm definieren. Dabei werden Gewichtsstücke mit einem speziellen Elektromagneten ausgewogen. Spannung und Strom in dem Magneten können extrem genau bestimmt werden und dadurch elektrische und mechanische Einheiten (hier die Masse) miteinander verknüpft werden. Am Ende könnte die Masse fixiert werden über eine Konstante aus der Quantenphysik: das Plancksche Wirkungsquantum. Bisher kommen die verschiedenen Wattwaagen jedoch noch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ohnehin wird nicht nur ein Ansatz den Wettlauf um die Neudefinition des Kilogramms gewinnen, denn erst wenn zwei Experimente unabhängig voneinander zu dem gleichen Ergebnis kommen, wollen die Hüter des Urkilogramms sich auf eine Neubestimmung einigen. ANHANG: Eine runde Geschichte vom Werdegang einer Diva oder wie man eine perfekte Silizium-28-Kugel herstellt St. Petersburg, Russland, 2003 (Zentralbüro für Zentrifugenentwicklung des Russischen Atomministeriums): Den Geburtsort eines Hightech-Produktes stellt man sich anders vor: Inmitten halb verfallener Büros und stillgelegter Produktionshallen für Panzer stehen 250 Zentrifugen in einem provisorisch abgetrennten Raum. Groß wie Wäscheschleudern sind sie neben- und übereinander bis an die Decke gestapelt. Robuste Technik aus dem Kalten Krieg. Wenn etwas kaputt geht, reicht es meist, wenn der Mechaniker Schraubenschlüssel und Hammer mitbringt. Früher reicherten russische Atomwissenschaftler hier das Uran für Atomraketen an, jetzt wollen sie gemeinsam mit den Kollegen in Nischniy Nowgorod das reinste Silizium der Welt herstellen: Es soll zu 99,99 Prozent aus dem Isotop Si-28 bestehen. Fünf Kilo brauchen die Physiker der PTB davon, um ihre Arbeit fortführen zu können. Doch die internationalen Kooperationspartner sind erst einmal skeptisch: Sind die russischen Kollegen wirklich in der Lage, im ersten Schritt hochreines Siliziumfluorid herzustellen? Ohne Vorkasse läuft hier gar nichts, nicht mal Strom. Schließlich wagt man das Risiko - und es lohnt sich. Eineinhalb Jahre lang schleudern die Zentrifugen das Siliziumtetrafluorid, das zuvor aus metallurgischem Silizium, Natriumhydroxid und Flusssäure hergestellt wurde. Immer wieder werden die massereicheren Isotope abgetrennt, bis fast ausschließlich Silizium-28 übrig bleibt. Endlich sind die Russen sicher, es geschafft zu haben, doch vorerst ist es eine "gefühlte" Reinheit, denn messen können sie sie nicht. Das macht das Institut für Referenzmaterialien und Messungen der EU im belgischen Geel und ist zufrieden: 99,996 Prozent Silizium-28 (gasförmiges Siliziumtetrafluorid auf 99,996 % angereichert). Einen Teil der Kosten trägt übrigens die Internationale Organisation für die Nichtverbreitung von Waffentechnik (ISTC). Gegründet von den USA, der EU, Japan und Russland, setzte sich die Organisation zum Ziel, möglichst viele Waffenspezialisten der ehemaligen Sowjetunion für friedliche wissenschaftliche Arbeit zu gewinnen, damit die große Menge arbeitsloser Kernphysiker nicht den Angeboten aus Iran, Libyen oder Nordkorea folgt. Nischniy Nowgorod, Russland (Institut für hochreine Materialien): Mit dem Flugzeug reist das Gas nach Nischniy Nowgorod, das frühere Gorki, Geburtsstadt des gleichnamigen Schriftstellers und einst, im 19. Jahrhundert, wichtige Handelsmetropole. Kunst- und Kulturfans kommen beim Anblick seiner prächtigen Architektur - wie schon in St. Petersburg - ins Schwärmen. Doch am Institut für hochreine Materialien der Russischen Akademie der Wissenschaften bietet sich den Wissenschaftlern der PTB und ihren Kollegen ein ganz anderes und doch schon bekanntes Bild: Bevor die Arbeit beginnen kann, müssen die Labore erst einmal auf Vordermann gebracht werden. Alles ist in desolatem Zustand. Bis 1991 war Nischniy Nowgorod eine "geschlossene Stadt", kein Ausländer durfte sie betreten, denn hier rollten Atom-U-Boote, Kampfflugzeuge (etwa die MiG-29 oder die MiG-31) und Panzer vom Band. Doch mit dem Zusammenbruch des Sowjetreichs versiegte die Finanzierung des gehätschelten "militärisch-industriellen Komplexes". Zehntausende von Wissenschaftlern und Technikern sind seitdem arbeitslos und Produktionsanlagen zerfallen. Schließlich können im Herbst 2005 die nächsten Arbeitsschritte beginnen: die Umwandlung des Gases aus St. Petersburg in Silan (SiH4), die weitere chemische Reinigung des Gases von Fremdstoffen und schließlich die Kristallisation. Dabei scheiden sich die Siliziumatome aus dem Gas an einem dünnen Kristallstab ab und dieser wächst schließlich zu einer Säule aus kleinen Kristallen heran. Ein Vierteljahr dauert der Prozess, bei dem immer wieder portionsweise Gas über den Stab geschickt wird. Inzwischen ist Winter, und es wird ein richtig russischer. Mit Sorge beobachten die Wissenschaftler der PTB die sinkenden Temperaturen im Osten, denn bei Energieknappheit wird als erstes den Forschungseinrichtungen der Strom abgedreht. Doch alles geht gut. Der Stab ist am Ende rund 80 cm lang, 6 cm dick und 6 kg schwer. Aus dem Gas ist ein fester Körper entstanden, ein polykristalliner Rohstab. Berlin, Deutschland 2006/2007 (Institut für Kristallzüchtung): Mit einer einen Meter langen Holzkiste als Handgepäck reist ein russischer Physiker im September 2006 nach Berlin zum Institut für Kristallzüchtung. Hier soll aus dem polykristallinen Rohstab ein einziger großer Kristall, eben ein "Einkristall", gemacht werden, denn die Wissenschaftler des Avogadro-Projekt brauchen nicht nur einen sehr reinen sondern auch überaus gleichmäßigen Einkristall für ihre Untersuchungen. Das "Floating Zone-Verfahren" findet in einer haushohen Kristall-Züchtungsanlage statt, dabei wird der Siliziumstab langsam durch eine Schmelzzone, eine Art Heizring geführt. Im Heizring schmilzt das Silizium, die Atome können sich frei bewegen und ordnen sich beim Erstarren der Schmelze gleichmäßig an. Gleichzeitig sammeln sich die Verunreinigungen, die immer noch im Material vorhanden sind, in der Schmelze und wandern mit ihr bis zum oberen Kristallrand, wo sie schließlich abgeschieden werden. Doch die erste Versuche schlagen fehl, die Schmelze läuft aus, der Vorratsstab teilt sich in zwei Fragmente. Mehrmals muss das Verfahren abgebrochen und neu gestartet werden. Der Siliziumstab ist kein Standardprodukt, kreative und unorthodoxe Lösungen müssen her. Schließlich gelingt es: Im Frühjahr 2007 haben die Berliner Wissenschaftler einen perfekten Einkristall geschaffen. Ein Laie könnte die Perfektion nicht erkennen, denn noch immer ist es ein dunkler, dicklicher, unregelmäßiger Stab, aber die Anordnung der Atome im Kristallgitter könnte gleichmäßiger kaum sein und lässt die Physikerherzen höher schlagen. Doch zum Messen taugt der dickliche Zylinder nicht. Er wird in Teile gesägt: Die kleineren bekommen die Projektpartner und Forschungsinstitute weltweit, um alle Eigenschaften des Materials, die für die exakte Bestimmung der Avogadrokonstante wichtig sind, zu messen. Die beiden größten Stücke jedoch machen sich auf die Reise ins australische Zentrum für Präzisionsoptiken. Begleitet werden sie von einer Art Bodyguard, einem Mitarbeiter des Internationalen Büros für Maß und Gewicht aus Paris, der die Kristallteile sicher in die Hände von Achim Leistner legen soll. Sydney, Australien (Commonwealth Science and Industrial Research Organisation, CSIRO) 2007/2008: Was Achim Leistner beim Blick aus dem Fenster seines Arbeitsplatzes in einem Vorort von Sydney sieht, sehen andere nur im Urlaub: strahlender Sonnenschein über einer grünen Parklandschaft. Wer hier arbeitet, fährt am Wochenende an den Strand, surft und hält nach Haien Ausschau. Auch Leistners Haus steht am Strand. Dort will er seinen Ruhestand genießen, doch für eine letzte große Herausforderung kehrt der gelernte Feinoptiker aus Sachsen noch einmal ins Labor zurück. Achim Leistner ist eine Koryphäe. Er soll aus den Einkristallstücken aus Berlin zwei nahezu perfekte Kugeln polieren - eine für die PTB und die andere für Forscherkollegen in Japan. Die Anforderungen sind enorm: Damit die Kugeln möglichst genau 1 kg auf die Waage bringen - soviel wie das Urkilogramm -, müssen sie einen Durchmesser von ziemlich genau 93,7 mm haben. Vom Mittelpunkt bis zur Oberfläche der Kugel dürfen die Abweichungen dabei nicht mehr als 30 Nanometer betragen, das entspricht 30 Millionsteln eines Millimeters. Den Anfang macht eine Maschine, die die Zylinderstücke in zwei Kugeln schleift, die dann etwa 1 Kilogramm wiegen, doch sie muss an einem bestimmten Punkt vor den Anforderungen der Wissenschaftler kapitulieren. Nun muss Leistner ran. Doch wie schafft ein Mann das, was auch präziseste computergesteuerte Geräte nicht können? "Es ist Intuition", erklärt Leistner, "es ist schwer zu erklären, aber ich weiß einfach, wenn ich Schichten von Atomen bewege." "Atome massieren" nennt er das scherzhaft. Zur endgültigen Politur wird die Kugel zwischen zwei rotierende kegelförmige Aufsätze gespannt, von denen einer von einer optischen Poliermaschine bewegt wird, der andere aber auch manuell bedient werden kann. Wer das tut, so Leistner, muss in der Tat "fühlen", was sich auf der Oberfläche der Kugel beim Polieren tut. Gleiches gilt für die intuitiv genau dosierte Zugabe von feinem Schleifschlamm (erst kolloidales Aluminiumoxid, später Titandioxid in wässriger Lösung), um den Polierprozess in einer perfekten Balance zu halten. Dies ist der Produktionsschritt, in dem Talent, Erfahrung und Wissenschaft zusammenkommen. Nimmt er nur einen Hauch zuviel weg oder entstehen gar Kratzer auf der Oberfläche, sind die Kugeln für die Forscher nutzlos. Ein gutes halbes Jahr benötigen Achim Leistner und seine Kollegen für die Präzisionsarbeit. Dann sind sie fertig: die perfektesten und mit 1 Million Euro pro Stück wohl auch teuersten Kugeln der Welt. Gemeinsam mit Arnold Nicolaus, der in der PTB das Volumen und die Oberflächentopographie der Kugel genauestens ausmessen soll, reist Peter Becker nach Australien, um die Schönheiten in Empfang zu nehmen und ins Messlabor der PTB zu bringen. Hier werden die Hüllen fallen, und die Diva kann ihre Rundung präsentieren. Arnold Nicolaus wird nicht der geringste Makel entgehen. [if]
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