Gerichtsmediziner entwickelt Verfahren zur Bestimmung der Liegezeit
von Leichen
Wenn eine Leiche gefunden wird, werden häufig Gerichtsmediziner
hinzugezogen, um die Todesursache zu klären. Doch vor allem bei
ungeklärten Todesfällen oder Mordopfern ist es manchmal auch wichtig,
den Todeszeitpunkt möglichst genau zu bestimmen. Übliche Anhaltspunkte
für die Bestimmung sind zum Beispiel die sogenannten Totenflecken, die
meist etwa eine halbe Stunde nach Todeseintritt durch das Absinken des
Blutes entstehen, sowie die Totenstarre, die Stunden nach dem Tod
durch die Erstarrung der Muskulatur einsetzt. Doch verschwinden solche
Anzeichen spätestens einige Tage nach dem Tod. Ist ein Mensch bereits
länger verstorben, bevor er entdeckt wird, können vor allem
Entomologen, spezialisierte Insektenforscher, bei der genaueren
Bestimmung des Todeszeitpunkts helfen. Denn Leichen werden in einer
überraschend festen zeitlichen Reihenfolge von bestimmten
Insektenmaden besiedelt. Dr. Frank Wehner vom Institut für
Gerichtliche Medizin der Universität Tübingen hat daneben ein weiteres
Verfahren entwickelt, mit dem sich auch bei längerer Liegezeit der
Leiche in vielen Fällen noch Aussagen treffen lassen. Der
Gerichtsmediziner nimmt dafür die Zersetzung von körpereigenen
Proteinen zu Hilfe.
Frank Wehner hatte sich überlegt, dass er für die neue Methode
Proteine auswählen musste, die im Körper möglichst vieler Menschen
vorhanden sind. "Dazu zählt zum Beispiel das Insulin, das nur bei
Diabetikern vom Typ I fehlt", erklärt er. Es sollten außerdem Proteine
sein, die in ausreichender Menge in einem Organ vorkommen, das bei der
Obduktion routinemäßig entnommen wird wie die Bauchspeicheldrüse oder
die Schilddrüse. Außerdem sei es für die Entwicklung des Verfahrens
einfacher gewesen, Proteine einzubeziehen, für die es bereits einen
Antikörpertest gibt - Tests, wie sie zum Beispiel in der klinischen
Pathologie angewandt werden. Diesen Anforderungen entspricht das
Cystatin C, das in der Nebenniere des Menschen gebildet wird. Der
Forscher hat mehrere Hundert Leichen untersucht, von denen der
Todeszeitpunkt beziehungsweise die Liegezeit bekannt waren, auch um
den Einfluss der Umgebungstemperatur auf die Zersetzungsprozesse
besser einschätzen zu können. Ergänzend hat Frank Wehner Versuche mit
Mäusen gemacht, die nach Tierversuchen getötet worden waren. Die hat
er teilweise drinnen, teilweise draußen ausgelegt. "Bei Mäusen
schreitet die Zersetzung schneller voran wegen der geringeren
Körpermasse, doch die Ergebnisse waren denen von menschlichen Leichen
durchaus vergleichbar", sagt er.
Danach lässt sich das Cystatin C anhand eines Schnitts aus dem Gewebe
der Nebenniere bis zu zwölf Tage nach dem Tod durch eine positive
Immunreaktion nachweisen. "Wenn wir eine Leiche im Wald finden und das
Cystatin C noch nachweisen können, wissen wir also, dass der Mensch
seit maximal zwölf Tagen tot ist", erklärt Frank Wehner. "Ist der
Cystatinnachweis negativ, wissen wir, dass der Mensch seit mindestens
drei Tagen oder auch deutlich länger tot ist." Das immunhistochemische
Verfahren zur Bestimmung des Todeszeitpunkts werde durch Einbeziehung
mehrerer Proteine genauer. Wehner und seine Kollegen haben bisher
bereits bei insgesamt sieben Proteinen die Nachweiszeit in Leichen
bestimmt, darunter das Glucagon, ein Gegenspieler des Insulins im
Blutzuckerstoffwechsel, und Schilddrüsenhormone.
"Der Todeszeitpunkt lässt sich mit dem immunhistochemischen Verfahren
bei länger liegenden Leichen auf zwei bis drei Tage eingrenzen", sagt
Wehner. Sie komme durchaus auch bei Tötungsdelikten zum Einsatz, zum
Beispiel wenn eine teilweise verweste Leiche gefunden wird, die
Schuss- oder Stichverletzungen aufweist. Für die weiteren Ermittlungen
sei es oft wichtig, wann der Mensch getötet wurde. Mörder seien in der
ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht so clever, dass sie solche
Methoden wie die Proteinnachweise in ihre Planungen einbezögen oder
die Gerichtsmediziner austricksten. "In der Regel handelt es sich bei
Morden um Beziehungstaten mit Motiven wie Liebe, Hass, verlassene
Liebe oder auch Geld. Solche Taten geschehen nicht so überlegt", sagt
Wehner.
Dass der Gerichtsmediziner darauf gekommen ist, die Proteinanfärbung
bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts zu nutzen, liegt an einem Fall,
in dem Insulin die Mordwaffe war. Wehner wollte einem Arzt nachweisen,
dass dieser seine Eltern umgebracht hatte. "Viele Leute vergessen,
dass ein Arzt häufig auch andere Mittel zur Verfügung hat, wenn er
andere Menschen töten will", sagt er. "Und eine Insulinvergiftung ist
prinzipiell schwer nachzuweisen." Die Leichen von den Eltern des
Arztes wiesen Einstichstellen von Spritzen auf. Er behauptete, dass er
ihnen Morphin als Schmerzmittel gegeben habe. Dies ließ sich jedoch in
den Leichen nicht nachweisen, hingegen aber eine große Menge Insulin,
unter anderem an der Einstichstelle. Damit war der Arzt als Mörder
seiner Eltern überführt. Unter Wehners Wissenschaftlerkollegen kam
dann die Frage auf, wie lange nach dem Tod eigentlich noch Insulin im
Körper zu finden ist. "Damit war die Neugierde geweckt und die
grundsätzliche Idee geboren", erzählt Wehner.
Wie bei anderen Verfahren auch, gibt es Einschränkungen bei der
Anwendung des immunhistochemischen Verfahrens. "Zum Beispiel fallen
Leichen, die in der Tiefkühltruhe aufbewahrt wurden, heraus." Das hat
der Forscher an Gletscherleichen überprüft, die ein bis zwei Jahre im
Eis lagen - da waren die Proteine noch vorhanden. "Die Tiefkühlung
stoppt die abbauenden Prozesse." In einer Sauna hingegen würden die
Abbauprozesse viel schneller als normal ablaufen, auch das wäre ein
Ausschlusskriterium. Doch sei auch eine etablierte Methode wie die
Bestimmung der Insekten, die eine Leiche besiedeln, nicht immer
anwendbar: "Ohne Fliege, die ihre Eier in die Leiche legt, gibt es
auch keine Made. Manche Wohnungen sind so sauber, dass keine Maden zu
finden sind - das kommt nicht so häufig vor, aber immerhin." Nun könne
das eine Verfahren das andere bei längeren Leichenliegezeiten
ergänzen, sagt Wehner.
"Ich hatte einen aktuellen Fall, in dem das immunhistochemische
Verfahren mit Gewinn angewandt wurde", erzählt er: An einem 30. März
holte ein Mann einen Schlüssel vom Vermieter, um in seine neue Wohnung
einzuziehen. Wenig später, am siebten April, wurde er tot aufgefunden,
seine Leiche befand sich dann in einem Zustand fortgeschrittener
Fäulnis. Der genaue Todeszeitpunkt war nicht bekannt. Der Verstorbene
hatte eine Großmutter, die am vierten April verstarb, sowie einen
Bruder. "Erbrechtlich war der Fall hochbrisant, weil die Großmutter
ein schönes Villengrundstück, ein Millionenerbe, zu vermachen hatte",
erklärt der Gerichtsmediziner. Nun gab es zwei Möglichkeiten: Wenn die
Großmutter vor ihrem Enkel gestorben war, hätte ihr Erbe gleichmäßig
auf ihre beiden Enkel verteilt werden müssen. Das kurz darauf
anzutretende Erbe des Mannes wäre nicht unbedingt an seinen Bruder,
sondern an dessen Erben, zum Beispiel seine Kinder, gegangen. Im
zweiten Fall aber, in dem der Mann zuerst gestorben wäre, wäre sein
Bruder der Alleinerbe des großmütterlichen Villengrundstücks und
Vermögens geworden. "Das neue Verfahren ergab nun, dass der Mann
spätestens am ersten April gestorben sein musste", sagt Wehner. So hat
wohl der Bruder des Mannes das große Erbe allein angetreten.
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