Unvorhergesehenes Materialversagen kann weit reichende Folgen haben,
zum Beispiel wenn ein Bungee-Seil reißt, ein Reifen platzt oder das
Dach einer Halle einstürzt. Aus diesem Grund möchten
MaterialwissenschaftlerInnen möglichst genau verstehen, welche
physikalischen Vorgänge ablaufen, wenn Materialien einer Belastung
nicht mehr standhalten können. Reißt zum Beispiel ein Kunststoff-Seil,
dann liegt das daran, dass sich die chemischen Bindungen zwischen den
Atomen der Polymer-Struktur aufgrund der anliegenden Kräfte lösen.
Dabei ist man bisher immer davon ausgegangen, dass die Zugbelastung
die maximale Bindungskraft überschreiten muss, um eine Bindung
aufzutrennen.
Der Diplom-Ingenieur Sebastian Schmidt in der Arbeitsgruppe von
Professor Hauke Clausen-Schaumann an der Hochschule München konnte in
Zusammenarbeit mit dem Chemie-Professor Martin Beyer von der
Christian-Albrechts-Universität Kiel nun nachweisen, dass sich die in
Polymeren vorherrschenden kovalenten Bindungen schon bei einer
Zugbelastung lösen, die weit unterhalb der maximalen Bindungskraft
liegt. Einzige Bedingung: die Zugbelastung muss über einen gewissen
Zeitraum andauern.
Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, haben die Forscher mit der Spitze
eines Rasterkraftmikroskops (AFM) Moleküle des Zucker-ähnlichen
Polymers Carboxymethylamylose mit verschiedenen Zuggeschwindigkeiten
bis zum Zerreißen gedehnt und dabei den Kraftverlauf gemessen. So
konnte gezeigt werden, dass die für die Stabilität der Verbindung
maßgeblichen Silizium-Kohlenstoff-Bindungen schon bei geringen aber
anhaltenden Kräften zerstört werden. Eine Erklärung haben die
Wissenschaftler dafür auch parat: Durch die angelegte Kraft wird die
Bindungsenergie so weit abgesenkt, dass die Bindung bereits bei
Raumtemperatur thermisch zerstört werden kann. Ihre Lebensdauer
reduziert sich dadurch auf Sekundenbruchteile und die Bindung löst
sich blitzschnell auf. Das dahinter steckende theoretische Modell
liefert die so genannte Arrhenius-Gleichung, deren Gültigkeit für den
Abriss kovalenter Bindungen bisher noch nicht bewiesen werden konnte.
Dieser Beweis ist den Münchner Wissenschaftlern jetzt mit ihrem
Experiment gelungen.
Diese grundlegenden Erkenntnisse könnten zu einem tieferen Verständnis
von Materialermüdung und Materialversagen beitragen und der
Entwicklung neuer Kunststoffe dienen, die außergewöhnlich lang
anhaltenden Belastungen widerstehen sollen.
Die vorab in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift "Journal of the
American Chemical Society" veröffentlichte Arbeit wurde vom
Exzellenz-Cluster "Nanosystems Initiative Munich" (NIM) unterstützt,
das es sich zum Ziel gesetzt hat, funktionale Nanostrukturen für
Anwendungen in der Medizin und in der Informationsverarbeitung zu
entwickeln und zu erforschen.
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