Die Grafik zeigt die Reaktion Cl- + CH3I
über einer 3D-Darstellung des wichtigsten Messergebnisses
Abbildung © Universität Freiburg
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Vor fünf Jahren begann PD Dr. Roland Wester
als Projektleiter in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Matthias
Weidemüller mit dem Bau einer speziellen Apparatur, in der einzelne
chemische Reaktionen wie in einem Billiardspiel beobachtet werden
können. Die Ausgangsstoffe bewegen sich dabei mit kontrollierter
Geschwindigkeit aufeinander zu und reagieren miteinander. Dann werden
die Geschwindigkeit der entstehenden Reaktionsprodukte mit einer
Kamera sichtbar gemacht. "Am Anfang hatten wir nicht nur mit vielen
ungelösten Problemen zu kämpfen, sondern auch mit den Zweifeln unserer
Fachkollegen, dass diese Experimente jemals klappen würden. Heute
verfügen wir über eine weltweit einmalige Apparatur zur Beobachtung
einer Vielzahl chemischer Reaktionen." sagt Roland Wester.
In ihrer aktuellen Arbeit haben die Freiburger Wissenschaftler die
Austauschreaktion von negativ geladenen Chlor-Atomen mit
Iodmethan-Molekülen CH3I. Dabei entstehen das Molekül CH3Cl
und ein negativ geladenes Jod-Atom. Die Freiburger Experimente
förderten verschiedene unerwartete Effekte zu Tage. Entgegen der
einfachen Vorstellung, die sich auch in vielen Chemie-Lehrbüchern
findet, läuft diese Austauschreaktion bei geringen
Chlor-Geschwindigkeiten nämlich nicht so ab, dass das Chlor-Atom sich
dem CH3I-Molekül von einer Seite nähert und das Jod-Atom
nach der Umordnung des molekularen Komplexes in entgegen gesetzter
Richtung davonfliegt. Stattdessen dreht sich der Reaktionskomplex
mehrfach in verschiedene Richtungen, so dass sich das Jod-Atom in
unbestimmter Richtung vom Komplex löst. "Durch die Zusammenarbeit mit
der Theorie-Gruppe von Prof. Dr. Bill Hase, Texas Tech University,
USA, gelang es uns sogar noch einen weiteren, völlig unerwarteten,
Reaktionsmechanismus zu entdecken, der bei höheren Geschwindigkeiten
wichtig wird." erläutert Dr. Jochen Mikosch, der vor kurzem über die
experimentellen Arbeiten in Freiburg promovierte. Diesem neuen
Reaktionsmechanismus haben die Forscher gleich einen Namen gegeben.
Sie nennen ihn den "Roundabout"-Mechanismus nach dem englischen Wort
für Karussell und Kreisel.
Die untersuchten Austauschreaktionen spielen in Wasser und damit
möglicherweise in biologischen Prozessen eine sehr große Rolle.
Deshalb wollen die Forscher in Zukunft den Einfluss von
Wassermolekülen auf die Reaktion untersuchen. Dabei geht es ihnen um
bessere Vorhersagen des Ablaufs technologisch wichtiger Reaktionen und
um das Verständnis chemischer Prozessen in lebenden Zellen. Vor allem
aber sind Matthias Weidemüller und Roland Wester überzeugt, dass das
Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie, das durch die Verbindung aus
Komplexität und Quantentheorie geprägt ist, noch viele weitere
Überraschungen bereithält. "Unser Verständnis der modernen
Quantenphysik erfährt derzeit einen Paradigmenwechsel. Man ging
bislang davon aus, dass quantenmechanische Prozesse keinen
nennenswerten Einfluss auf komplexe Vorgänge, insbesondere in der
belebten Natur, haben. Inzwischen hat sich durch die Forschritte in
der Erforschung komplexer Quantensysteme der Blick geweitet und ich
bin sicher, dass man schon in naher Zukunft Hinweise auf Phänomene in
der belebten Natur finden wird, bei denen die Quantenphysik eine
entscheidende Rolle spielt", meint Matthias Weidemüller. Diese zu
entdecken ist für die Freiburger Wissenschaftler die große
Herausforderung.
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