Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben das ursprüngliche Modell über die Molekülbindung bei Wasser bestätigt und so den Weg gebahnt, damit die jahrelange wissenschaftliche Kontroverse über die Struktur von flüssigem Wasser beigelegt werden kann.
Das fast 100 Jahre alte Tetraeder-Modell, wie es auch in den Chemielehrbüchern steht, besagt, dass jedes Wassermolekül mit vier naheliegenden Molekülen eine sogenannte Wasserstoffbrückenbindung eingeht. Dieses Bild war 2004 komplett ins Wanken geraten, als eine internationale Forschergruppe experimentell festgestellt hatte, dass ein Wassermolekül jeweils nur mit zwei anderen Molekülen verbunden ist.
"Diese Messungen waren exzellent, aber sie zeigen nur eine Momentaufnahme", teilt Prof. Dr. Thomas Kühne dazu mit. Er widerlegt die These der 'Zweifachkoordinierung' anhand von Computersimulationen, die auf einer neuartigen Kombination von zwei in seiner Gruppe kürzlich entwickelten Rechenmethoden beruhen.
Einige ganz besondere und einzigartige Eigenschaften von Wasser, wie der flüssige Aggregatzustand oder der hohe Siedepunkt, gehen auf die Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Wassermolekülen zurück. Die H-Brücken entstehen infolge der unterschiedlichen Ladung von Sauerstoff- und Wasserstoff-Atomen, aus denen ein Wassermolekül besteht, und der resultierenden Dipolstruktur. Die traditionelle Sicht, die weithin akzeptiert war, ging von einer tetraedrischen Struktur von Wasser bei Raumtemperatur aus: Im Durchschnitt ist ein Wassermolekül mit den vier nächstliegenden Molekülen über zwei Donor- und zwei Akzeptorverbindungen gekoppelt. "Wir als Theoretiker haben in unseren Berechnungen im zeitlichen Mittel immer nur eine Vierfachkoordinierung beobachten können", sagt Kühne. Dank der neuen Simulationen können er und sein Kollege Dr. Rustam Khaliullin nun das alte Modell bestätigen und darüber hinaus eine Erklärung für die 2004 gemessenen Zweifachbindungen liefern - die nämlich laut Kühne keine Zweifachkoordinierung sind, "sondern eine extreme augenblickliche Asymmetrie".
Die vier Wasserstoffbrücken im Tetraedermodell sind demnach hinsichtlich der Stärke der H-Brücken stark asymmetrisch. Dies geht auf kleine momentane Störungen in dem Wasserstoffbrücken-Netzwerk zurück, die sich in Form von extrem schnellen Fluktuationen - sie ereignen sich auf einer Zeitskala von 100 bis 200 Femtosekunden - zeigen. Dadurch wird eine der beiden Donor- bzw. Akzeptorverbindungen kurzfristig wesentlich stärker als die andere. Diese Fluktuationen heben sich jedoch exakt auf, sodass im zeitlichen Mittel eine tetraedrische Struktur wiedererlangt wird.
Was 2004 in den Röntgenabsorptionsspektroskopie-Experimenten gemessen wurde, stammte von Wassermolekülen mit hoher momentaner Asymmetrie - weshalb praktisch nur zwei starke H-Brückenbindungen in einer ansonsten tetraedrischen Struktur zu sehen waren. "Unsere Befunde haben wichtige Folgen, weil sie dazu beitragen, die symmetrische und die asymmetrische Theorie über die Struktur von Wasser in Übereinstimmung zu bringen", schreiben die Wissenschaftler in einer Veröffentlichung von Nature Communications. Die Ergebnisse dürften auch für die Untersuchung von molekularen oder biologischen Systemen in wässriger Lösung wie beispielsweise die Proteinfaltung von Bedeutung sein.
Die Arbeiten der Gruppe um Thomas Kühne gehen auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zurück und wurden vom Schwerpunkt für Rechnergestützte Wissenschaften der JGU gefördert.
Zusatzinformationen:
Thomas D. Kühne, Rustam Z. Khaliullin:
Electronic signature of the instantaneous asymmetry in the first coordination shell of liquid water.
In: Angewandte Chemie; online veröffentlicht am 05. Februar 2013, DOI 10.1038/ncomms2459
Quelle: Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Aktualisiert am 06.02.2013.
Permalink: https://www.internetchemie.info/news/2013/feb13/wasser-tetraedermodell.php
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