Schuld an dem Untergang vieler Nervenzellen ist ein Faktor, den die
verletzten Zellen ausschütten, das proNGF. (Die engl. Abkürzung proNGF
steht für pro-nerve growth factor - Vorläufer des
Nervenwachstumsfaktors.) ProNGF bindet an einen Oberflächenrezeptor,
den Forscher Sortilin nennen, und der auf allen Nervenzellen, auch den
gesunden, sitzt. Bindet proNGF an Sortilin, löst es damit ein Signal
aus, das die tödliche Kaskade ins Rollen bringt. Das erklärt auch,
weshalb nicht nur die ursprünglich geschädigten Nervenzellen sondern
auch das umliegende gesunde Nervengewebe untergehen.
Was für die Embryonalentwicklung unabdingbar ist, ist für den
erwachsenen Organismus verhängnisvoll. Der durch proNGF ausgelöste
Zelltod sorgt im Embryo dafür, dass sich das Nervensystem gezielt und
kontrolliert ausbildet ohne auszuufern. Im erwachsenen Organismus
führt dieser "Todesfaktor" jedoch dazu, dass bei Verletzungen im
Gehirn immer auch massiv gesundes, und nicht nur geschädigtes
Nervengewebe abstirbt. "Das heißt, die Nervenzellen gehen nicht etwa
nur durch den ursprünglichen Schaden, wie zum Beispiel den Mangel an
Sauerstoff beim Schlaganfall zu Grunde, sondern ganz wesentlich durch
die Bindung von proNGF an Sortilin", erläutert Prof. Willnow.
Die Forscher hatten nach der jetzt mit dem Nobelpreis ausgezeichneten
Methode zum Ausschalten von Genen knock-out Mäuse gezüchtet, denen der
Rezeptor Sortilin fehlt. Es zeigte sich, dass bei den Mäusen, die kein
Sortilin auf ihren Nervenzellen tragen, wesentlich mehr Nervenzellen
bei einer Rückenmarksverletzung überleben, als bei Mäusen, die noch
über die Sortilin-Bindungsstelle verfügen. Letztere verlieren bis zu
40 Prozent der betroffenen Nervenzellen.
Ziel: Oberflächenrezeptor mit Medikamenten zu blockieren
"ProNGF und Sortilin sind eine ideale Zielscheibe für die Entwicklung
von Medikamenten", ist Prof. Willnow überzeugt. "Gelänge es, den
Rezeptor Sortilin mit einem Medikament zu blockieren und damit zu
verhindern, dass proNGF daran binden kann, wäre es möglich, zum
Beispiel Patienten mit Rückenmarksverletzungen zu behandeln und die
Schädigung des Nervengewebes zu begrenzen", sagt er.
Es wird vermutet, dass proNGF bei einer Vielzahl neurologischer
Erkrankungen wie Schlaganfall, Multipler Sklerose, Alzheimer und
Parkinson den Zelltod von Nervenzellen auslöst. Diese Krankheiten
könnten deshalb nach Ansicht von Prof. Willnow ebenfalls für solch
eine Behandlungsstrategie in Frage kommen. "Allerdings gibt es für
diese Erkrankungen im Mausmodell noch keinen Nachweis dafür, dass die
Ausschaltung des Sortilins den Untergang von Nervengewebe reduziert.
Aber wir arbeiten daran".
Der von Prof. Willnow und Prof. Nykjaer jetzt erbrachte Beweis, wonach
die Blockade von Sortilin den neuronalen Zelltod bei
Rückenmarksverletzungen verringert, ist das Ergebnis einer für
wissenschaftliche Verhältnisse relativ kurzen Zeitspanne. Erst 2001
hatten Forscher in den USA proNGF als Verursacher für das Absterben
von Nervenzellen identifiziert, der Mechanismus war aber unklar. 2004
bereits hatten dann Prof. Willnow und Prof. Nykjaer zeigen können,
dass proNGF seine tödliche Wirkung auf Nervenzellen über den
Oberflächenrezeptor Sortilin ausübt.
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